19. August 2029
Leer, Niedersachsen
Deutschland
Ben öffnete die Augen, streckte sich, drehte sich nach rechts und steckte seine Nase in Sabines Haar.
„Das riecht nach jemandem, der heute mit Brötchen-holen dran ist.“
„Hm?“
Ben wiederholte seine Feststellung.
Sabine lächelte. „Diese Regel existiert in dieser Welt nicht und die Chancen sind sehr gering, sie jetzt noch zu etablieren.“
Ben sprang auf, zog sich hastig an und suchte aus den Taschen einiger herumliegender Hosen etwas Kleingeld zusammen. Bevor er die Wohnung auf der Jagd nach frischen Brötchen verließ, blieb sein Blick noch einmal auf einer dösenden Sabine kleben.
„Verficktes Ende der Welt. Jetzt, wo mal alles gut ist.“
Gut bedeutete in diesem konkreten Fall, dass sich vor einigen Wochen ein neuer Bäcker in seinem Stadtteil angesiedelt hatte. Ein echter Bäcker, der noch nicht aus dem Wunsch heraus seinen Profit optimieren zu wollen dazu übergegangen war, hohle Teigballons als Brötchen zu verkaufen.
Seit beinahe 15 Jahren wohnten sie schon in dieser kleinen, gemütlichen Stadtwohnung, direkt am Hafenbecken. Da sich diese Unterkunft im ersten Stock befand und über keinen Balkon verfügte, nahmen sich Ben und Sabine immer mal wieder vor, umzuziehen. Vielleicht in eine Wohnung mit Garten. Vielleicht in ein Haus. Jetzt aber blieben sie lieber in den vier Wänden, die ihnen vertraut waren – bis es keine Wände mehr geben würde.
Ben bog in eine Seitengasse ein. Seine Lieblingsgasse. Sie sah aus, wie aus einem Märchen entsprungen. Ein wuchtiges Kopfsteinpflaster bohrte sich durch zwei altertümliche Häuserfronten, die mit restaurierten Fensterläden dekoriert waren. Moos drängte sich zwischen den Fugen der Steine empor, als sei es auf dem Weg irgendwo hin. Von unzähligen Passanten und deren Schuhwerk schon rund geschliffene Glassplitter versammelten sich an einer Stelle. Vermutlich besaß nicht nur er eine besondere Vorliebe für diese Abkürzung, sondern auch all die Hochzeitsfotografen, die sich diesen Ort (zumindest sozialen Netzwerken nach zu urteilen) als Location auserkoren hatten. Während er den Gang entlang schlenderte, von der aufgehenden Sonne geblendet, blickte er auf das Handy in seiner linken Hand.
„Sind Aliens die letzte Chance der Menschheit?“. Solche oder ähnliche Schlagzeilen prägten die Titel- und Startseiten der großen Nachrichtenportale an diesem Morgen. Gestern war die große Mission zum Alien-Raumschiff gestartet, die endlich Antworten auf die letzten Fragen dieser Welt liefern könnte. Im Moment war Ben das egal. Er konnte eh nichts daran ändern. Er konnte aber für ein gutes Frühstück sorgen. Das war seine „große Mission“ an diesem Morgen.
Plötzlich drängte sich etwas zwischen die blendende Morgensonne und ihn. Am Ende der Gasse stand eine Person. Na toll. Hoffentlich ignoriert er mich. Er hatte keine Lust auf noch einen dieser Verrückten, die derzeit auf den Straßen lungerten, Leute beschimpften und mitunter überfielen, weil jegliche Konsequenz auf ihre Taten ja ohnehin nur noch begrenzt sein würde.
Ben ging weiter, wechselte seinen Blick dabei stetig zwischen Handy und fremder Person. Bloß nichts anmerken lassen. Einfach vorbeigehen. Er ging bis er merkte, dass besagte Person ihm in dieser engen Gasse kein Vorbeigehen ermöglichen würde und hielt an.
„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte Ben.
„Ihr müsst gehen.“ Ein alter Mann in verschlissener Kleidung, die einen durchlöcherten grauen Mantel und Stiefel, die einem Museumsexponat entsprachen, beinhaltete, stand vor ihm.
„Wie bitte?“ reagierte Ben mit verdutztem Gesichtsausdruck.
„Erst Muni, jetzt die Erde. Geht!“
„Wenn Sie mich vorbeilassen, gehe ich ja.“ Ben stopfte sein Handy hastig in die linke Hosentasche, drängte sich an dem alten Mann vorbei und setzte seinen Weg zum Bäcker fort.
Muni. Was meinte der Kauz nur damit?
Beim Bäcker angekommen, bestellte er bei der freundlich lächelnden Verkäuferin zwei Dinkelbrötchen sowie zwei Buttercroissants. Croissants. Das wird Sabine freuen! Bei der gegenseitigen Nachfrage über das persönliche Befinden wurden Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht und sich anschließend über das zur Abwechslung mal recht trockene Wetter unterhalten. Außerdem wurde so oberflächlich wie nur irgendwie möglich über die aktuellen Schlagzeilen geplaudert und sich abschließend gegenseitig bedauert. So wie in jeder der vergangenen paar Wochen, in denen Ben sich als neuer Stammkunde dieses Bäckers betrachtete. Er bezahlte mit dem zuvor ergatterten Kleingeld und verließ das Geschäft, wählte bei seinem Heimweg diesmal aber eine andere Route als auf dem Hinweg.
Muni. Hm.
