11. September 2029
Leer, Niedersachsen
Deutschland
Ben hing den Akku-Staubsauger in die Wandhalterung und steckte dessen Ladekabel in eine sich in der Nähe befindende Steckdose. Als nächstes war die Wäsche an der Reihe. Er war zwar krankgeschrieben, wollte sich zu Hause aber dennoch irgendwie nützlich machen.
Nach dem er die Waschmaschine versorgt hatte, bereitete Ben sich einen Tee zu, füllte das restliche Wasser in eine Wärmflasche und legte sich aufs Sofa, um einen Podcast zu hören. „Raumzeit“ war dessen Name und er zählte zu seinen absoluten Favoriten im Genre der Astronomie-Podcasts. Er verfolgte dieses Projekt schon zu Zeiten, in denen man von schwarzen Löchern im Sonnensystem höchstens aus Science-Fiction Romanen wusste. Der Moderator der Sendung, Tim Pritlove, hatte die deutschsprachige Podcastszene Anfang der 2000er mit auf die Welt gebracht und war damals, als Ben selbst einen Podcast gründete, ein großes Vorbild. Die Tage, die er mit solchen Dingen verbrachte, waren nun aber schon eine Weile her und er vertrieb sich seine Zeit wieder vorrangig mit der Musik, dem Blick durch Teleskope und natürlich Sabine.
Das Thema der neuesten Episode lautete „60 Jahre Mondlandung“. Viel Neues gab es also nicht zu hören – Die Tatsache aber, dass eine solch herausragende Leistung wie das Betreten eines fremden Himmelskörpers in Anbetracht der drohenden Zukunft bald völlig irrelevant sein und der Traum einer interstellaren Menschheit ein solcher bleiben würde, deprimierte immerhin ausreichend.
Nach einer Weile schlummerte er zu den Stimmen des Moderatoren und seines Gastes ein.
Es dauerte einen Moment, bis er das Geräusch identifiziert hatte. Türklingel. Och nö. Ben schob die Wärmflasche beiseite, schälte sich aus der kuschligen Wolldecke und schlurfte zur Wohnungstür. Er betätigte den Türöffner. Es summte, es schnarrte und flinke Schritte eilten die Treppe zur Wohnung hoch. In der Treppenbiegung erblickte Ben das freundliche Gesicht des Paketboten, Lars, welcher Sabine und ihn schon seit Jahren mit Lieferungen versorgte.
„Na, Urlaub?“
„Nee, krank. Halt lieber Abstand.“ Ben machte eine übertriebene, ablehnende Geste.
„Ah, das hab ich auch gerade hinter mir. Grippe?“
„Genau. Magen-Darm. Gegen ein paar ungeplante Tage daheim habe ich ja eigentlich nichts, das innige Verhältnis mit der Toilette geht mir allerdings ziemlich auf den Keks.“
„Glaub ich Dir. Das kann man sich nicht mal schönsaufen.“
„Nee.“
„Nee.“
Für einen kurzen Moment standen beide sich wortlos gegenüber und erweckten den Eindruck, sie wüssten nicht warum sie dieses Gespräch überhaupt führten.
„Du hast ein Paket für mich?“ fragte Ben schließlich.
„Ach ja! Nein, für Sabine. Express-Versand. Ist sicherlich was sehr Wichtiges! Vielleicht Medikamente?“
Ben schüttelte den Kopf. „Wohl eher ein paar Schuhe.“ Also noch wichtiger.
Lars, der Paketbote, tippte ein paar Dinge in sein Hand-Terminal und reichte es anschließend Ben, damit er den Empfang mit seiner Unterschrift quittieren konnte. Die beiden verabschiedeten sich voneinander und Ben schlurfte zurück in die Wohnung. Ein Blick auf das Paketetikett verriet ihm, dass es von einem gewissen Powerstore24 verschickt wurde. Klingt nicht nach Schuhen. Wie auch immer. Er legte das Paket auf dem Esszimmertisch ab und richtete sich mühevoll wieder auf seinem Sofaplatz ein.
Es klingelte an der Tür. Schon wieder. Was jetzt? Wer diesmal? Ben wiederholte die Prozedur von vorhin und schlüpfte wie ein schlaffer Schmetterling aus seinem Grippe-Kokon. Er schlurfte, er drückte, es summte. Aber es schnarrte nichts. Ben drückte erneut, es summte erneut und wieder kam niemand durch die Haustür. Irritiert nahm er den Hörer der Türsprechanlage in die Hand.
„Hallo?“ Keine Antwort. Nur ein knackendes Rauschen. Die Türsprechanlage hatte er zuletzt vor einigen Jahren benutzt. Vermutlich war sie kaputt. Na toll.
Verärgert griff er sich einen Mantel von der Garderobe, rutschte in seine viel zu alten, viel zu hässlichen Pantoffeln und quälte sich die Treppe hinunter. „Hmpf. Uff. Puh.“ Die Vielfalt seiner Seufzer, die er bei jedem Schritt hervorbrachte, war beachtlich. Im unteren Gemeinschaftsflur angekommen, erblickte er durch das Milchglas der Haustür die verschwommenen Umrisse einer Person. Noch ein Paket? dachte Ben in sich hinein, denn er erwartete keinen Besuch. Er öffnete die Tür, hob die Hand um sich vor der blendenden Sonne, die jetzt im September schon anstrengend niedrig hing, zu schützen und blickte an ihr vorbei auf die Gestalt. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
„Oma?“
Seine Großmutter war vor mehr als 3 Jahrzehnten gestorben. Viel zu jung.
Als Bens Eltern sich kurz vor seiner Geburt trennten und seine Mutter mit der Situation überfordert gewesen war, nahm sich seine Großmutter der Erziehung des kleinen Rackers an. Sie brachte ihm so viele Dinge bei, die er heute liebte: Das Zeichnen, das Klavierspielen, Lesen. Als sie schwer lungenkrank wurde, hatte sein kindlicher Verstand die Situation nicht begreifen können. Der Rest der Familie weinte, verzweifelte. Ben verstand das nicht. Für ihn war sie weiterhin eine Heldin, die dieses Problem schon irgendwie bewältigen würde, so wie sie es immer tat.
Als sie fort war, nahm sie seinen unschuldigen Glauben an die Welt mit sich.
Doch hier stand sie nun, so wie er sie in Erinnerung behalten hatte.
Zierlich, nicht besonders groß. Tiefschwarzes, wallendes Haar umgarnte ihre dunkelbraunen, friedlichen Augen. Sie war um keinen Tag gealtert. Gekleidet in ein weißes Kleid, das sie, von spätsommerlicher Sonne angestrahlt, wie eine Engelsfigur wirken ließ, blickte sie Ben mitten in die Augen. Lilein, so war ihr Name (eigentlich Elise, aber sie wurde von allen nur unter diesem Kosenamen angesprochen), streckte die Hand aus, so als wollte sie Ben berühren. Sie öffnete den Mund, als wäre sie in Begriff etwas zu sagen, blieb aber stumm. Ben brachte ebenfalls kein Wort heraus und reichte ihr instinktiv die rechte Hand, die er zuvor als Sonnenblende gebraucht hatte.
Dann war sie fort.
