23. Dezember 2029
Austin, Texas
USA
„Wenn Dein Vater das wüsste, würde er mich eigenhändig in das schwarze Loch schleudern.“
„Ist es nicht doch vielleicht ein Wurmloch?“ fragte Jennifer, rückte ihr T-Shirt zurecht und griff blind nach ihrem Handy.
„Wissen wir nicht. Und ich meine damit: Wir wissen es WIRKLICH nicht.“
James schob die Decke beiseite, stand auf und warf sich den Morgenmantel über, den er am Abend zuvor auf einem Korbstuhl neben dem Bett drapiert hatte. Jen betrachte einen Moment lang die unsportliche, gar nicht mehr jugendliche Silhouette des mächtigsten Mannes der NASA. Was war ihr nur eingefallen? James Cornwall war vermögend, intelligent, der Chef ihres Vaters und durch das ihm anvertraute Amt eine sich mit Hoffnungen seiner Bewunderer kleidende Person unserer Zeit. Er war aber nun mal auch nicht besonders ansehnlich, ziemlich unsportlich und zu guter letzt seiner Ehefrau äußerst untreu.
Jen lernte „Onkel Jimmy“ vor ziemlich genau vier Jahren auf einer Weihnachtsfeier kennen, die für einen kleinen Kreis hochrangiger NASA-Angestellter abgehalten wurde. Das Verhältnis ihrer Eltern war zu diesem Zeitpunkt mal wieder an einem Tiefpunkt angelangt, daher entschied sich Percy kurzerhand, seine Tochter mitzubringen. Es brauchte an jenem Abend nur wenig, um Jennifer binnen kürzester Zeit zum Mittelpunkt der Veranstaltung zu katapultieren. Sie war jung, hübsch und so gar nicht die Art von Frau, der die übrigen Gäste in ihrem Alltag sonst so begegneten. Allen voran war es James, der ihr auffallend viel Aufmerksamkeit widmete. Sie hielt es für plump, wie er Percy immer wieder in belanglose Gespräche verwickelte, in die sich Jennifer hervorragend integrieren ließ. Plump, aber irgendwie auch schmeichelnd.
Nur wenige Wochen später erhielt sie eine Kurznachricht von James, in der er sie zu einer Besichtigung des Kennedy Space Centers einlud. Er hätte ahnen können, dass eine solche Einladung auf die Tochter eines NASA-Astronauten nicht außerordentlich spektakulär wirken würde – sie war aber der erste Schachzug in einem Spiel, dessen Finale einige Tage darauf in Jennifers Bett ausgetragen wurde. Zunächst bereute sie dieses Ereignis und auch James erweckte zwischenzeitig den Eindruck, ihm wäre nicht nach einer Wiederholung. Es dauerte jedoch nicht lang, bis aufgeregte Konversationen mittels Textnachrichten zu spontanen Flugtickets und weiteren, gemeinsamen Nächten führten.
Ab und zu fragte Jen sich, ob ihr Vater nicht ahnte, was da zwischen ihr und seinem Chef passierte. Vermutlich nicht, denn bisher war noch niemand von ihm in das schwarze Loch geschleudert worden.
Jim war ihr gegenüber sehr redselig. Oft ging es dabei um seine beiden Töchter, Maggie und Dorothy. Beide waren ungefähr in Jennifers Alter, nur unwesentlich jünger – aber das störte sie nicht. Reife, gestandene Männer hatten ihrer Meinung nach etwas sehr Reizvolles an sich, dass sich durchaus mit den körperlichen Vorzügen jüngerer Vertreter ihres Geschlechts messen konnte. Manchmal erzählte James auch von der Arbeit und hier und da konnte Jen ihm Informationen über laufende Projekte jener Sorte entlocken, die eigentlich der Geheimhaltung unterlag. All das war Teil des Spiels, dass sie sofern die Umstände es erlaubten, gern miteinander spielten. Jennifer wusste, dass es niemals mehr als das sein würde und sie hatte auch nicht vor, mehr daraus zu machen. James war seit fast 30 Jahren verheiratet, seiner Aussage nach sogar ziemlich glücklich. Wie die meisten Ehen definierte sich das Zusammenleben dabei mittlerweile aber nicht mehr durch sexuelle Reize, sondern über Gewohnheiten. Das war nicht schlimm, es machte einen Mann wie James allerdings auch äußerst empfänglich für Abenteuer, wenn sie sich in Reichweite befanden. Gutaussehende Rockstars oder Schauspieler waren vielleicht dauerhaft von solchen Möglichkeiten umgeben, für James war die erfolgreiche Kontaktaufnahme zur Tochter seines Angestellten und Freundes vermutlich so spannend wie die Landung Armstrongs auf dem Mond.
James betrog seine Ehefrau. Jennifer hasste Männer, die so etwas taten. Eigentlich. Sie konnte diesem Einen jedoch nicht böse sein, so sehr sie es auch versuchte. In den seltenen Momenten, in denen Jim in Jennifers Gegenwart über Kathlyn sprach, schwärmte er von ihr. Sie mochte das. Sie bewunderte es. Jen genoss es, Teil seines Lebens zu sein, aber nicht Teil seines Lebens sein zu müssen.
„Ich bin spät dran.“ sagte James und drückte Jennifer einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.
„Ein STIRNKUSS? Dein Ernst?“ merkte Jennifer mit gespielter Empörtheit an.
„Ich muss am Flughafen noch was für Kathlyn besorgen. Ich habe es also wirklich eilig, sorry.“
„Ich dachte, Du hast schon die Halskette? Die ist doch wunderschön!“ Jen pausierte. „Ah. Schlechtes Gewissen. Ich verstehe. Na dann, verschwinde! Frohes Fest!“
„Dir auch.“
Jennifer gab James einen Klaps auf den Po und blickte ihm hinterher, als er das Schlafzimmer und kurz darauf ihre Wohnung verließ. Nicht ganz so wie Stevens.
